Interview von Sam Tanson im Télécran

"Kultur ist systemrelevant"

Interview: Télécran (Martine Folscheid)

Télécran: Viele Kulturschaffende beschweren sich, dass sie schließen müssen, Geschäfte hingegen geöffnet bleiben. Ist das in Ihren Augen kohärent?

Sam Tanson: Ich verstehe die Sorge des Teils der Kulturschaffenden, die von den Schließungen betroffen sind, absolut. Es ist immer schwer, in freiheitseinschränkenden Maßnahmen absolute Kohärenz zu erreichen. Wir sind gar nicht dafür ausgestattet, solche Maßnahmen zu verhängen, weil wir ein freiheitsliebender Rechtsstaat sind und keine Diktatur. Wir haben also versucht, eine gewisse Kohärenz zu erzielen. Nun ist es ja so, dass die Geschäfte weiterhin geöffnet bleiben, weil es Stätten sind, in denen man sich bewegt und nicht lange an einer Stelle verweilt, und das Gleiche gilt für Museen und Galerien.

Télécran: Aber die Hygienekonzepte der Kulturhäuser sind doch sehr streng. Die Besucher halten sich darin länger auf, aber sie sitzen an einem Platz und müssen den notwendigen Abstand einhalten...

Sam Tanson: Das stimmt, aber es ging jetzt in dieser Phase nicht um einzelne Hygienekonzepte. Sondern die Zahlen in Luxemburg waren über längere Zeit einfach zu hoch, wir müssen sie senken und hoffen auf das Verständnis der Bevölkerung, dass bis zum 15. Dezember alle Veranstaltungen im rekreativen Bereich, vor allem abends, nicht mehr stattfinden können. Natürlich verstehe ich, dass dafür nicht jeder Verständnis aufbringt, weil es eben diese Konzepte gibt, und weil nicht jede einzelne Maßnahme verglichen mit jeder anderen einzelnen Maßnahme Sinn ergibt. Aber wir müssen andererseits alle gemeinsam probieren, von den hohen Infektionszahlen wegzukommen, damit es in den Spitälern nicht zu einer noch höheren Belastung kommt.

Télécran: Ist Kultur in Ihren Augen systemrelevant?

Sam Tanson: Natürlich. Ich kann mir ein Leben, eine Gesellschaft ohne Kultur überhaupt nicht vorstellen, von daher ist sie natürlich systemrelevant. Dafür haben wir ja auch alles darangesetzt, um Kulturinstitutionen und Kulturschaffende zu beschützen und zu begleiten. Unterstützung in Form von Geld kann die Tätigkeit an sich nicht ersetzen, nicht in finanzieller Hinsicht und nicht, was die Wertschätzung, die Anerkennung des Berufs angeht. Das ist mir klar. Dennoch können die Hilfsmaßnahmen sich sehen lassen. Zum einen wurden seit März bereits über 900000 Euro an zusätzlichen Sozialleistungen an die freischaffenden Künstler und "Intermittents du spectacle" (Künstler und Bühnentechniker, die ihre Arbeit Kulturbetrieben im Rahmen von individuellen, zeitlich befristeten Projekten anbieten, Anm. d. Red.) gezahlt und diese Maßnahme wurde nochmals verlängert. Dann haben wir das Programm "Neistart Lëtzebuerg" aufgelegt, mit einem Volumen von fünf Millionen Euro. Wir tun also alles, um die Szene zu erhalten.

Télécran: Wird sie denn erhalten bleiben?

Sam Tanson: Man konnte in den vergangenen Monaten beobachten, dass die Menschen ein sehr großes Bedürfnis nach Kultur haben. Es wurde viel Kultur konsumiert, viel gelesen, viele Filme angeschaut, viel Musik gehört.

Télécran: Was halten Sie von den Alternativen, wie Kulturschaffende versuchen, mit ihrem Publikum in Kontakt zu treten - wie zum Beispiel der Choeur de Chambre de Luxembourg, der seine CD an die Télécran-Leser verschenkt?

Sam Tanson: Ich finde das großartig. Überhaupt die Energie, die die Kulturszene in den letzten Monaten aufgebracht hat, um weiter zu existieren, zusammenzuarbeiten, untereinander solidarisch zu sein und neue Wege zu finden, um das Publikum zu erreichen. Wir haben eine sehr kreative Kreativ-Szene. Das ist beeindruckend. Kultur ohne Publikum kann zwar existieren, aber es ist nicht dasselbe. Die Anerkennung fehlt dem Künstler. Darum haben wir ja einerseits zum Teil selbst probiert, Ersatz zu schaffen, zum Beispiel mit der Kampagne von "Reading Luxembourg", welche Luxemburger Bücher und Autoren in den Fokus setzte, obwohl alle Buchmessen abgesagt wurden. Andererseits bieten wir den kulturellen Einrichtungen während der aktuellen Schließungsperiode eine spezifische finanzielle Unterstützung für die Live-Übertragung im Netz ihres kulturellen Programms an.

Télécran: Früher war das gemeinsame Fernsehschauen das sogenannte "Lagerfeuer der Nation". Dann kamen Streaming-Dienste und das gemeinsame Rezipieren und der gesellschaftliche Austausch darüber fielen weg. Besteht diese Gefahr nicht auch für die Kulturszene?

Sam Tanson: Nein, man konnte sehr gut beobachten, dass die Menschen einen großen Bedarf hatten, zurück ins Theater und in Konzerte zu kommen, als nach dem ersten strengen Lockdown die Lockerungen zur Rentrée in Kraft traten. Sie wollten trotz aller Restriktionen die Events live und gemeinsam erleben. Kultur ist oft genau das, dass man zusammen ein Theaterstück oder Konzert entdeckt und sich später darüber austauschen kann.

Ich bin einverstanden, dass ein großer Teil verloren geht, wenn man dies durch digitale Medien ersetzt. Das Digitale ist für mich nur eine Ergänzung. Es ist schön, unsere Museen haben dadurch große Fortschritte gemacht, indem sie auf digital setzten, eine hübsche Ergänzung für die Attraktivität des Museums. Aber das ersetzt nicht den Gang ins Museum, den Kontakt mit dem ausgestellten Objekt.

Télécran: Es gibt Künstler, die befürchten, dass die verstärkte Digitalisierung die Zahl physischer Besucher zum Beispiel in Museen zukünftig untergraben könnte. Sie teilen diese Angst demnach nicht?

Sam Tanson: Ich meine wirklich nicht. Meiner Ansicht nach wird so ein größeres Publikum erreicht, weil man auch Museen im Ausland besichtigen kann, oder weil man auch Menschen erreicht, für die es schwierig ist, sich von zuhause wegzubewegen. Aber als passionierte Museengängerin kann ich sagen: Einen Museumsbesuch ersetzt das definitiv nicht. Weil Museen ja auch oft ein architektonisches Erlebnis sind.

Télécran: Gilt dies auch für digitale Konzerte?

Sam Tanson: Den Gänsehauteffekt habe ich persönlich jedenfalls im Konzertsaal, und nicht, wenn ich ein Konzert zuhause am Bildschirm anschaue. Die Atmosphäre geht dabei zum Teil verloren. Darüber hinaus hängt es von der Soundinstallation ab, ob man daheim annähernd den Genuss erreichen kann, den man zum Beispiel in einer Philharmonie hat. Alles Aspekte, die unbezahlbar und unersetzlich sind. Die erlebt man nur in dem Moment vor Ort, wenn man mit anderen Menschen gleichzeitig das Erlebnis teilt, wenn man die Musiker, den Dirigenten oder die einzelnen Instrumentengruppen vor sich sieht, als reelle Menschen zum Anfassen quasi. Das Digitale ohne das Physische, das ist etwas, das ich mir gar nicht vorstellen kann und auch nicht will.

Télécran: Sie unterstützen die Kulturszene bereits finanziell - gibt es weitere Pläne, eine Anschubfinanzierung zum Beispiel, wenn mal alles wieder normal ist?

Sam Tanson: Unser Programm "Neistart" ist bereits eine bedeutende Maßnahme, zudem die zusätzliche Unterstützung der freischaffenden Künstler und "Intermittents du spectacle", solange die Corona-Restriktionen nicht aufgehoben sind. Auch im Staatshaushalt des nächsten Jahres ist mehr Geld für die Kultur vorgesehen.

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